Wählen ist Ausdruck von Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Würde
Mit Herzblut beteiligt sich die Heimvolkshochschule St. Hedwigs-Haus in Oerlinghausen daran, die Sperrigkeit politischer Teilhabe für Menschen mit starken Lernschwierigkeiten zu überwinden.

In unserer liberalen Demokratie mit wählen zu können, ist vielen Menschen mit starken Lernschwierigkeiten sehr wichtig. Der Wahlakt ist für sie ein Akt der Selbstbestimmung und ein Ausdruck von Gleichberechtigung und Würde. Allerdings kommt dies alles nur zum Zug, wenn Barrieren abgebaut werden, die zwischen den persönlichen Zielen und Werten eines Menschen und dem Abgeben seiner Wahlstimme stehen. Und dieser Barrieren gibt es viele.
Dr. Nike Alkema und Nadine Klocke engagieren sich mit Herzblut in dem Anliegen, die Hürden einzureißen, die sich Menschen mit starken Lernschwierigkeiten in den Weg stellen. Als Direktorin beziehungsweise Bildungsreferentin in der Heimvolkshochschule St. Hedwigs-Haus in Oerlinghausen kennen sie die Mechanismen von Benachteiligung und Ausgrenzung sehr gut aus ihrer Arbeit mit Menschen, die eine Migrations- oder Fluchtgeschichte haben. Ihre pädagogische Arbeit nun auf eine weitere Zielgruppe auszurichten, sich auf ihre speziellen Bedürfnisse und Fähigkeiten einzustellen, ist eine Herausforderung, der sich die beiden gerne gestellt haben und stellen.
Zu den Barrieren, die einer selbstbestimmten Wahlentscheidung entgegenstehen, gehört zum Beispiel die Übersetzungsleistung, die beim Grundwissen über die Demokratie in Deutschland und bei den Wahlprogrammen der Parteien nötig ist. Nike Alkema und Nadine Klocke würdigen die Mühen von Institutionen wie der Bundeszentrale für politische Bildung, Inhalte einfach und plastisch, in Leichter Sprache zu präsentieren. Weniger gelungen sind für sie manche Wahlprogramme, die eher nicht auf die Menschen mit starken Lernschwierigkeiten hin zugeschnitten sind. Aber für beides gilt: Ohne tätige Hilfe von Betreuenden und Bezugspersonen helfen die Materialien nicht wirklich. „Papier ist geduldig“, resümiert Nike Alkema, es spricht halt nicht allein zu den Menschen.
Im Rahmen des AKSB-Projektes Wie geht Demokratie? hat sich das St. Hedwigs-Haus mit einem Seminar beteiligt, in dem es in kleinen Schritten einen sehr persönlichen Austausch über politische Inhalte organisiert hat: über das politische System der Bundesrepublik, über das Wählen, auch über die eigene Wahlentscheidung. Um das gut zu machen, war es Nike Alkema und Nadine Klocke wichtig, sich vorab mit Betreuenden und Bezugspersonen zu unterhalten. So konnten sie manche methodischen Fallstricke vermeiden und gute Bedingungen für die Gruppe gestalten. Und andersherum sensibilisierte das auch Beteiligte für ihre eigene Rolle: dass sie selbst im Alltag der Menschen mit starken Lernschwierigkeiten gefordert sind, authentische Meinungsbildung in Fragen von Politik und Gesellschaft zu unterstützen, wie sie generell ja Selbstbestimmung stark machen.
So schwer fällt das gar nicht, sondern macht eher Spaß, ist die Erfahrung von Nike Alkema und Nadine Klocke. Die Teilnehmenden brachten eine große Neugier und Begeisterung mit, sich mit der Materie zu beschäftigen. Denn sich als mündige Staatsbürger/-innen an der Neuwahl des Parlaments zu beteiligen, bedeutet ihnen sehr viel. Der Kniff, sich durch die Komplexität von Zusammenhängen und Begriffen durchzukämpfen, ist eigentlich allgemein eine gute Idee: sich für die Themen entscheiden, die einem selbst besonders wichtig sind, und dann gezielt die Programme der Parteien auf diese Themen hin zu lesen. Dann muss man nicht alles studieren, sondern dockt genau an den Fragen an, die sich im eigenen Leben stellen. Beim Seminar waren das die Themen Klimaschutz, Wohnen und Arbeiten – auch hier kein Unterschied zu anderen Menschen. Mit einer reizvollen Mischung von Ernsthaftigkeit und Humor gingen die Teilnehmenden zu Werk, in der gebotenen parteipolitischen Neutralität begleitet durch die politischen Bildnerinnen.
So viel Leidenschaft für Politik schwang mit im Raum, dass klar ist: Man bleibt dran. Allen Beteiligten ist es wichtig, diesen selbstbestimmten Weg von Information, Meinungs- und Willensbildung weiterzugehen. Mit dem Kooperationspartner ist vorüberlegt, dass es Folgeseminare gibt, um die Prozesse zu begleiten, die sich dem Wahlakt der deutschen Wahlbevölkerung anschließen: die Regierungsbildung zum Beispiel oder die Wiederaufnahme der gesetzgeberischen Arbeit im Bundestag. Ganz praktisch begann die gewünschte Fortsetzung aber bereits am Wahltag selbst: Wie in vielen deutschen Familien hatten sich auch Teilnehmende aus dem Seminar verabredet, den Wahlabend gemeinsam vor dem Fernseher zu verbringen und die ersten Hochrechnungen und Ergebnisse gespannt zu verfolgen. Für politisch Interessierte wie sie ist das halt ein Highlight im Erleben des demokratischen Ereignisses, an dem sie selbst durch Abgabe ihrer Erst- und Zweistimme beigetragen haben.
Politische Bildung ist das eine, aber auch Gesellschaft und Staat sind gefordert, um dem verfassungsmäßigen Anspruch auf demokratische Teilhabe gerecht zu werden. In der Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen von Personen mit starken Lernschwierigkeiten haben Nike Alkema und Nadine Klocke viele Barrieren entdeckt, die für eine große Gruppe von Menschen gilt, die auf irgendeine Weise körperlich oder geistig eingeschränkt sind. Das fängt bei baulichen Mängeln bei Wahllokalen an und hört bei der Sperrigkeit von amtlichen Unterlagen zur Wahl nicht auf. Dass Hinweise für Sehgeschädigte in kleiner Schrift auf der Wahlbenachrichtigung abgedruckt sind, ist nur ein Beispiel für unangepasste behördliche Kommunikation. Der Weg zu echter Inklusion ist weit, nicht nur für Einrichtungen der politischen Bildung. Wie das St. Hedwigs-Haus anzufangen lohnt: Es geht um Menschenwürde und Zusammenhalt. Seine bildnerische Arbeit strahlt bereits in das Umfeld der Teilnehmenden aus und gestaltet so Gesellschaft mit.
letzte Aktualisierung: 17. Januar 2022