Spielräume nutzen: Europa vermitteln in non-formaler politischer Bildung

Die EU ist ein wesentliches Thema der politischen Bildungsarbeit. Aber wie lässt sich das umfassende und manchmal als langweilig wahrgenommene Thema „Europäische Union“ in der politischen Bildungsarbeit vermitteln?

Der Satz „Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“ ist ein Zitat des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer. Was das Zitat auf den Punkt bringt: Europa ist kein ganz einfacher Kontinent. Weil Europa manchmal etwas kompliziert sein kann, ist es nur folgerichtig, dass auch die Europäische Union eine gewisse Komplexität aufweist.

Für die politische Bildung ergeben sich daraus Herausforderungen: Die EU besteht aus einer Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Rollen und Bedeutungen. Noch dazu kommt, dass die EU viele Themen bearbeitet: Nicht alle davon sind gleich interessant. Wer möchte schon die Details beispielsweise der Verordnung 883 zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme kennenlernen?

Wie aber kann erfolgreiche EU-Vermittlung gelingen? Was macht Bildungsveranstaltungen, die als gut wahrgenommen werden, aus? Das Europabüro und seine Träger führen jedes Jahr Fachveranstaltungen durch, auf denen eine Vielzahl von Akteuren der politischen Bildung ihre Erfahrungen zu diesen Fragen austauschen und wichtige Kriterien für erfolgreiche EU-Bildung herausarbeiten. 

Mehrschichtiges Erleben fördern

Die Teilnehmenden und Vortragenden der Tagungen und Workshops zeigten eine klare Präferenz für Veranstaltungsformate, die Lernenden ein mehrschichtiges Erleben ermöglichen. Zu diesen Bildungsformaten zählen vor allem Exkursionen und Studienfahrten, multinationale Begegnungen und politische Planspiele. Die verschiedenen mehrdimensionalen Ansätze der Europavermittlung haben dabei zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen zielen diese darauf ab, ihr Publikum nicht nur auf kognitiver, sondern auch auf emotionaler Ebene zu erreichen. Zum anderen rezipieren die Lernenden nicht nur, sondern führen aktiv Handlungen aus.

Studienfahrten und Exkursionen

Studienfahrten und Exkursionen nach Brüssel und Straßburg sind eine beliebte Methode. Auch wer mit der EU nicht nur positive Gefühle verbindet, ist oft neugierig, die EU-Institutionen einmal aus nächster Nähe zu sehen und persönlich mit Abgeordnet*innen oder Mitarbeiter*innen der Europäischen Kommission zu sprechen. Es kann Vertrauen bilden, Gebäude und Personen mit den eigenen Augen zu sehen. Auch für Fachkräfte kann es lehrreich sein, sich auf diese Weise einen Eindruck zu verschaffen.

Bei frühzeitiger Anfrage ist es normalerweise möglich, einen Termin bei einem Abgeordnetenbüro oder einer Mitarbeiter*in der Europäischen Kommission zu erhalten. In Brüssel lockt das Parlamentarium, das offizielle Museum des Europäischen Parlamentes, mit einer multimedial aufbereiteten Ausstellung auf zwei Etagen und 360-Grad-Kino. Seit der Eröffnung haben zwei Millionen Menschen das Parlamentarium besucht. Ein sehenswertes Ziel ist auch das Haus der Europäischen Geschichte. Besucher finden hier eine große Ausstellung mit vielen Originalexponaten zu den verschiedenen Epochen der Geschichte Europas. Die Qualität des Exkursionsprogramms kann gesteigert werden, wenn ein bestimmtes Thema der EU-Politik, für das sich die Zielgruppe besonders interessiert, als Veranstaltungsthema gewählt wird. Die intensiven Debatten um die Datenschutzgrundverordnung, um das Thema Flucht und Migration oder den Eurpean Green Deal und den Klimaschutz zeigen, dass es eine Vielzahl von EU-Themen gibt, die in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit finden und auf Interesse stoßen. Wenn eine historische Perspektive bevorzugt wird, eignen sich auch Fahrten nach Verdun, Schengen oder Waterloo.

Auch in der Forschung wird das „exemplarische Lernen“ bevorzugt. Die Konzentration auf ein bestimmtes Politikfeld oder sogar eine konkrete Streitfrage ermöglicht die Reduktion von Komplexität und erleichtert so den Zugang und eine vertiefte Auseinandersetzung (Grammes 2004). Bei Exkursionen ist es zudem sinnvoll, eine Projektion deutscher Perspektiven auf die EU sowie die Falle eines Besichtigungstourismus zu vermeiden. Daher sollten die Gesprächspartner unterschiedlichen Nationen, Parteien und EU-Institutionen angehören und die Exkursion auch Lernphasen mit Seminararbeit beinhalten (Weber 2015).  

Begegnungen zwischen europäischen Jugendlichen

Europa besteht nicht nur aus Politik. Ein wichtiger Aspekt ist die Begegnung mit anderen Europäer*innen. Ein Format, das in besonderer Form auf Erleben und Aktivität setzt, sind die Europäischen Jugendwochen (EJW), wie sie im Haus am Maiberg im hessischen Heppenheim durchgeführt werden. Seit 25 Jahren kommen einmal im Jahr um die 50 Teilnehmende aus zehn Partnerländern zusammen und leben und lernen für 14 Tage miteinander. Ziel der EJWs ist es, Europa als Erfahrungsraum greifbar zu machen und die Nation als maßgebliches Kriterium der Gruppenzugehörigkeiten infrage zu stellen. Oft verbinden einen weit mehr Gemeinsamkeiten mit Menschen, die in anderen Ländern wohnen, als mit den eigenen Nachbarn. Vielfach teilten die Teilnehmer*innen persönliche Erfahrungen, Interessen, persönliche Eigenschaften, Vorlieben und Hobbys. Die Veranstalter der EJW berichteten, dass die Teilnehmer*innen der Jugendwochen durch das wechselseitige Kennenlernen schnell herausfänden, dass auch andere in der Großstadt wohnten, Motorrad führen oder mit einem Elternteil aufgewachsen seien. Dadurch bildeten sich neue Gruppenzugehörigkeiten. Um die persönliche Ebene herzustellen, wird die Methode der Living Library genutzt. Das Ziel, die Selbstreflexion der Teilnehmer*innen anzuregen, kann durch die Erstellung von Identitätsmolekülen erreicht werden.

Durch die verhältnismäßig lange Dauer der Veranstaltungen von zwei Wochen und das Zusammenleben einer gemischt-nationalen Gruppe im Tagungshaus ist ein besonders intensives Kennenlernen möglich. Durch die auftretenden gruppendynamischen Prozesse können Emotionen zu politischen Themen offen ausgedrückt werden. Die Dauer von zwei Wochen ermöglicht es den Trainer*innen, umfangreiche Aktivitäten durchzuführen. Die Europäischen Jugendwochen werden in ihrer Wirkung auf die Teilnehmer*innen als sehr positiv eingeschätzt.

Politische Simulations- und Planspiele

Politische Simulations- und Planspiele existieren als Methode bereits seit langer Zeit. Bei einem Planspiel nehmen die Teilnehmer*innen für einen begrenzten Zeitraum im Spiel die Rollen politischer Akteure ein und verhandeln zum Beispiel einen Rechtsakt. Manche Akteure der politischen Bildung schätzen die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Planspielen als gering ein. Spielen ist nach wie vor bei einigen Bildnern mit dem Makel fehlender Seriosität behaftet. Dabei sind die positiven Wirkungen von Planspielen auf den Lernerfolg der Teilnehmenden in der politikdidaktischen Forschung mittlerweile gut belegt (Hartmann & Weber 2013, Oberle & Leunig 2018, Dierßen & Rappenglück 2015). Auch aus der Praxis sind zahlreiche positive Erfahrungen mit Planspielen bekannt. Die Akademie Klausenhof in Hamminkeln, das Ludwig-Windhorst Haus in Lingen oder der BDKJ des Bistums Osnabrück sind drei Einrichtungen, die Planspiele und andere spielerische Ansätze seit Langem erfolgreich in der politischen Bildung nutzen.

Alle Menschen besitzen einen natürlichen Spieltrieb. Dadurch wird es möglich, auf unterhaltsame Weise in komplizierte politische Prozesse einzuführen und Interesse zu wecken. Durch das Einnehmen verschiedener Rollen lernen Teilnehmende auf einprägsame Weise die verschiedenen Akteure der EU kennen. Oft ist die Verhandlung von Gesetzesvorschlags der Europäischen Kommission Gegenstand von EU-Planspielen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema trainiert die Einarbeitung in politische Sachverhalte. Die Verhandlungen mit den Mitspielern schulen die Argumentationsfähigkeit. Oft erleben die Teilnehmenden sehr schnell, wie schwierig die Kompromissfindung bei politischen Verhandlungen sein kann. Dadurch entsteht ein besseres Verständnis für die Arbeit politischer Akteure. Die Situation des Spiels und der Wettbewerb mit den anderen Spieler*innen erhöhen die Motivation, sich auf komplizierte Inhalte oder Abläufe einzulassen.

Die Erprobung eines Planspiels auf der Fachtagung im Dezember 2019 zeigte, wie schnell die Mitspieler*innen in ihren Rollen aufgehen und sich interessante politische Dynamiken entwickeln. Obwohl den Teilnehmenden die Spielsituation vollkommen bewusst war, konnte zum Beispiel erst in intensiven Nachverhandlungen ein Kompromiss zum Atomausstieg der EU gefunden werden.

Politische Simulations- und Planspiele können die Realität selbstverständlich nicht vollständig abbilden. Damit sich bei den Mitspieler*innen nicht der Eindruck festsetzt, in der EU gehe es exakt wie im erlebten Spiel zu, ist es wichtig, das Erlebnis in eine gute Vor- und Nachbereitung einzubetten. Ein Planspiel, das Interesse geweckt hat, kann als Einstieg für einen eher theoretischen Input zu Strukturen und Prozessen in der EU dienen.

Finanzielle Förderung für die politische Bildung

Exkursionen und Studienfahrten, Jugendbegegnungen und politische Planspiel können durch Erasmus+, das EU-Programm für Bildung, gefördert werden.

Europa im Blick behalten

Nach der Europawahl 2019 ist die EU in der öffentlichen Aufmerksamkeit etwas nach hinten gerückt. Das Thema ist dadurch nicht weniger relevant. Daher gilt es, das Interesse mit dem Einsatz bewährter und innovativer Methoden aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Durch die Behandlung von Themen, welche die Bürger*innen aktuell beschäftigen, können noch dazu Beiträge zu gesellschaftspolitischen Debatten geleistet werden.

Einladung zur Fachtagung des Europabüros

Die Fachtagung des Europabüros findet in diesem Jahr am 3. und 4. Dezember 2019 in Brüssel statt. Das Thema der Veranstaltung lautet: "Partizipation und Demokratie in der EU nach der Europawahl 2019: Aufgaben für die politische Bildung."

Die Veranstaltung richtet sich an Mitarbeiter/-innen von AKSB, BDKJ, JHD und KEB sowie Mitgliedseinrichtungen und Organisationen, die in der Jugend- oder Erwachsenenbildung tätig sind. Die Teilnahme an der Fachtagung sowie Übernachtung und Verpflegung sind kostenfrei.


letzte Aktualisierung: 28. Januar 2022