Zusammenarbeit von politischer Bildung und Jugendsozialarbeit
Anlässlich des aktuellen Kinder- und Jugendberichts hat die BAG KJS ein Interview mit Tom Urig und Karl Weber geführt. Die Botschaften des Jugendberichts bestärken beide in der Zusammenarbeit ihrer Verbände.
31. Mai 2021
Im 16. Kinder- und Jugendbericht steht das Thema „Demokratische Bildung im Kindes- und Jugendalter“ im Mittelpunkt. Er verdeutlicht: Demokratische Bildung findet in sozialen Räumen statt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) hat Expert/-innen und Praktiker/-innen gefragt: „Warum Demokratiebildung im Jugendalter unverzichtbar ist…“ Tom Urig, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS), und Karl Weber, Geschäftsführer der AKSB, gaben in einem Doppelinterview Antworten. Wir haben das Interview eins zu eins von der BAG-KJS-Publikation „Jugendsozialarbeit News“ übernommen.
Herr Urig, wie bewerten Sie die Botschaften des 16. Kinder und Jugendberichts zur „Demokratischen Bildung im Kinder- und Jugendalter“?
Tom Urig: Der Bericht verdeutlicht genau zur richtigen Zeit, dass wir eine politische Bildung brauchen, die alle jungen Menschen erreicht. Wir fühlen uns bestärkt darin, politische Bildung nicht nur der Schule zu überlassen. Vielmehr brauchen wir Demokratiebildung an vielen Orten und für eine große Zielgruppe. Wir sehen es kritisch, dass politische Entscheidungen gravierende Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben, es für diese aber kaum Beteiligungsmöglichkeiten gibt. Politik reduziert sie überwiegend darauf, dass sie Schüler/-innen sind. Auch die Selbstorganisationen wie Jugendringe oder Schüler/-innenmitvertretungen werden nicht ausreichend einbezogen.
Herr Weber, warum halten Sie Demokratiebildung im Jugendalter für unverzichtbar?
Karl Weber: Ich möchte gerne den Begriff „Mündigkeit“ einbringen, der auch im Jugendbericht eine Rolle spielt. „Mündigkeit“ ist eine zentrale Kategorie, gerade im Jugendalter. Junge Menschen experimentieren in dieser Lebensphase, wie sie selbst Partizipation in der Gesellschaft wahrnehmen können. Dies kann nicht von außen vermittelt werden. Gerade auch in Peer-Groups erfährt und erlebt man zusammen, was man bewirken kann. Wir in der politischen Bildung stehen für positive Erfahrungen mit der Demokratie ein. Viele Jugendliche haben derzeit das Gefühl, dass sie nicht gesehen werden, nicht mitgestalten und nicht mitentscheiden können. Da sehe ich eine große Herausforderung für die außerschulische politische Bildung.
Warum sollten insbesondere katholische/kirchliche Träger politische Bildung umsetzen?
Tom Urig: Das ist eine spannende Frage. Unsere katholischen Verbände und Organisationen sind durch die katholische Soziallehre geprägt. Sie stellt die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt und will immer zu solidarischem Handeln befähigen. Katholische Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit gehen von der Grundannahme aus, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist – unabhängig von Status, Geschlecht, Alter, Herkunft und auch unabhängig von Religion. Jeder Mensch hat Anspruch auf einen würdevollen Platz in der Gesellschaft. Wir sehen das biblische Vorbild des Jesus von Nazareth. In der bekannten Bibelstelle heißt es: „Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran, denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes“. Daraus leiten wir ab, dass wir uns besonders für die Rechte von jungen Menschen einsetzen müssen – gerade auch für die, denen es schlechter geht, etwa aufgrund von Armut, Vernachlässigung, Flucht oder Gewalt, die keine eigene Lobby in der Gesellschaft haben. Dabei wollen wir Beteiligung, Solidarität und Demokratie ermöglichen und erfahrbar machen.
Karl Weber: Das Verhältnis zwischen demokratischem Lernen, politischer Bildung und katholischer Kirche ist ja sehr spannungsreich. Die katholische Kirche steht derzeit weltweit gesehen vor einer Wahl: Im negativen Fall bietet sie sich mit ihrer monarchischen Struktur als ein antidemokratisches Gegenbild gegen den sogenannten Zeitgeist an, oder aber sie nimmt die Auseinandersetzungen um gesellschaftliche und politische Werte aktiv auf und gestaltet sie als Bildungsträger Zivilgesellschaft mit. Gerade im Blick auf die Diversität der eigenen Strukturen gibt es da noch viel Nachholbedarf.
Die Zusammenarbeit Ihrer Organisationen entspricht bereits einer der Empfehlungen aus dem Bericht: Mehr und systematische Kooperationen zwischen der Jugendsozialarbeit und der Politischen Bildung. Insbesondere durch das Bundesprogramm „Respekt Coaches“ hat sich Ihre Kooperation etabliert. Welche wichtigen Lernerfahrungen konnten Sie bisher miteinander machen?
Karl Weber: Der Austausch mit der BAG KJS ist sehr wichtig. Damit sind neue Fragestellungen aufgetaucht, damit sind auch Zielgruppen bei uns anders in den Blick gekommen. Das ist aus meiner Sicht aber erst ein Anfang. Da können wir zukünftig noch sehr viel mehr tun. Und auch die Frage nach der Rolle von politischer Bildung stellt sich: Sind wir die Feuerwehr? Sind wir dann gefragt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist? Werden wir nicht verzweckt? Wie sind unsere Methoden? Sind die doch immer noch viel zu stark kognitiv? Hier wollen wir gemeinsam mit der Jugendsozialarbeit darauf schauen und unsere Angebote weiterentwickeln.
Tom Urig: Tatsächlich war es ein Kennenlernen. Es war wichtig zu wissen, wie die Strukturen aussehen, was die Ziele in der politischen Bildung sind. Zu verstehen, was die anderen machen – und darüber ein eigenes Selbstverständnis von politischer Bildung entwickeln. Auch die politische Bildung ist ja zum großen Teil in der Jugendhilfe unterwegs, wir haben teils gleiche Begrifflichkeiten, vielleicht auch gleiche Methoden und ähnliche konzeptionelle Ansätze. Da ist die Gefahr immer groß sehr früh schon zu meinen, man hätte verstanden was der andere macht. Umso wichtiger ist, noch intensiver miteinander zu diskutieren. Überraschend ist auch für Viele in der Jugendsozialarbeit die Erkenntnis, dass Politische Bildung nicht unbedingt diese bürgerliche Veranstaltung ist, die in schicken Schlössern am Rande der Stadt ihre Akademien veranstaltet. Uns gelingt es tatsächlich gemeinsam, und gemeinsam mit Jugendlichen, spannende, gute und wirksame Projekte zu entwickeln. Es sind auch weiterhin noch Zuschreibungen und Vorurteile in den Köpfen, die es in der Praxis und in der Reflexion der Zusammenarbeit zu überwinden gilt. Das ist alles kein abgeschlossener Prozess.
Wie funktioniert derzeit die gemeinsame Bildungsarbeit unter Corona-Bedingungen?
Karl Weber: Das ist ein sehr differenziertes Bild. Wenn man in die Fläche schaut, findet Bildungsarbeit als Begegnungsarbeit schlichtweg nicht statt. Am Anfang waren politische Bildner*innen aber mit die ersten, die in der Lage waren, auch digitale Angebote zu machen. Hier mussten wir aber aufpassen, dass schulische Themen nicht einfach in die außerschulische Bildungsarbeit verlagert werden. Auf der Ebene der Multiplikator*innenarbeit erlebe ich einen großen Schub durch die Digitalisierung. Wir haben sehr hohe Teilnehmer*innenzahlen bei unseren Veranstaltungen, die wir sonst wahrscheinlich bei bundesweiten Veranstaltungen so nicht erreicht hätten. Da entwickeln sich neue Formate, die kommen aber dann an ihre Grenzen, wenn es in größeren Gruppen zu kontroversen Diskussionen kommt.
Tom Urig: Genau, die Bildungsarbeit in Coronazeiten muss man als divers beschreiben. Wir haben tatsächlich einen Kreativitätsschub. Wir haben aber teils auch die Situation, dass Kolleg*innen vor Ort ausgebremst sind und nichts machen können. Uns ist auch noch einmal bewusst geworden, wie wichtig Präsenz ist, wie wichtig ein personales Angebot ist. Wir werden an vielen Stellen digital bleiben, aber ich hoffe, dass wir nicht zu sehr kämpfen müssen, dass uns das personale Angebot erhalten bleibt.
Die Jugendsozialarbeit wird im Bericht den „Unterschätzten Räume der politischen Bildung“ zugeordnet. Was nehmen Sie hier jeweils als Auftrag mit in Ihre Verbände?
Tom Urig: Bei aller Bescheidenheit kann man dem Bericht entnehmen: wir sind auf einem guten Weg. Gerade auch durch unsere Kooperation, sind wir in den katholischen Strukturen seit drei Jahren gemeinsam gut unterwegs. Darauf weist der Bericht an manchen Stellen konkret hin. Wir dürfen uns darauf natürlich nicht ausruhen. Die Jugendsozialarbeit ist sehr breit aufgestellt. Etwa im Programm Respekt Coaches oder bei der Schulsozialarbeit haben wir recht gute Rahmenbedingungen und vielfach engagierte Kooperationspartner*innen. In der Jugendberufshilfe sieht es aber schon ganz anders aus. Hier fehlt es an freien Zeiten, an Freiräumen für Methoden der politischen Bildung, es gibt noch kaum Verständnis bei den Jugendberufsagenturen und es fehlt an der Finanzierung. Eine wichtige Aufgabe wird sein, die politische Bildung nachhaltig in allen Feldern der Jugendsozialarbeit zu verorten und dabei auch methodisch weiterzuentwickeln. Politische Bildung mehr ist als Prävention oder einfache Beteiligung von jungen Menschen! Die Aus- und Fortbildung der Kolleg*innen zur politischen Bildung muss auch deutlich gestärkt werden.
Karl Weber: Wir haben schon eine sehr gute Basis gelegt. Gleichzeitig sind wir aufgefordert, nicht stehen zu bleiben. Aktuell gibt es zwei konkrete Themen mit großen Schnittmengen: die aufsuchende politische Bildungsarbeit und die inklusive politische Bildung. Da gibt es viel zu tun.
Quelle: IN VIA Deutschland im Netzwerk der BAG KJS – Das Interview führte Julia Schad-Heim von IN VIA Deutschland.