Aus jugendbildnerischer Sicht ist das zum Heulen
Seit über 70 Jahren ist das AKSB-Mitglied Marstall Clemenswerth als Jugendbildungsstätte tätig. Doch durch die Vorgaben zur Eindämmung der Corona-Pandemie liegt der Alltag dort gerade brach. Im Interview gibt Hausleiter Christian Thien Einblicke.
30. April 2020
Dieser Ort hat auf jeden Fall etwas Besonderes.“ So beschreibt Michael Engbers, Bildungsreferent bei der Jugendbildungsstätte Marstall Clemenswerth in Sögel, das Jugendkloster Ahmsen auf dem hauseigenen YouTube-Kanal. Das Bildungs- und Begegnungshaus in Ahmsen bildet gemeinsam mit der Jugendbildungsstätte Marstall Clemenswerth den Verein „Marstall Clemenswert & Jugendkloster Ahmsen e. V.“. Beide Häuser liegen im Landkreis Emsland nur wenige Kilometer voneinander entfernt und sind über den Marstall Clemenswerth seit Jahrzehnten Teil der AKSB.
Das Jugendkloster Ahmsen legt die Schwerpunkte auf Jugendpastoral, Spiritualität und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Die Jugendbildungsstätte Marstall Clemenswerth selbst bietet ein breites Angebot in Bereichen wie sozialem und gesellschaftlichem Lernen, Inklusion, Integration, politischer Bildung, musisch-kreativer Bildung, Jugendspiritualität und -pastoral und sportlicher Bildung.
Wöchentlich kommen im Schnitt rund 340 Besucher in die beiden Häuser, durchschnittlich bleiben sie zwei bis drei Nächte im Haus. So erreichen Marstall Clemenswerth und Jugendkloster Ahmsen zusammen 27.000 Teilnehmertage pro Jahr.
Gut 40 Mitarbeiter sorgen im Normalfall dafür, dass sich alle Besucher rundum wohl fühlen, etwa 60 nebenamtliche pädagogische Referenten arbeiten an guten Bildungs- und Veranstaltungsangeboten.
Normalerweise.
Die Vorgaben zum Schutz vor Corona-Infektionen haben die beiden Einrichtungen nahezu zum Stillstand gebracht. Seit dem 16. März 2020 ist der Bildungs- und Veranstaltungsbetrieb unterbrochen. Was das bedeutet, schildert Christian Thien, Hausleitung des Marstall Clemenswerth.
Herr Thien, was bedeuten die Corona-Vorgaben für Ihr Haus und Ihre Mitarbeiter?
Jeder unserer festangestellten Mitarbeiter ist auf Kurzarbeit gesetzt worden, nahezu alle auf Null-Kurzarbeit. Für sie bedeutet dies natürlich eine schwierige privat-finanzielle Situation. Eine Mitarbeiterin aus der Hauswirtschaft beschrieb es so: „Einmal eine längere Zeit zuhause zu sein, hat auch seinen Charme. Aber schon nach diesen wenigen Wochen möchte man doch gerne zurück an die Arbeit kommen. Stetig macht man sich Gedanken und Sorgen.“
Die Mitarbeiterinnen der Verwaltung und Pädagogik, die noch aktiv an Bord sind, kümmern sich um politische Vernetzung und Lobbyarbeit, um den Kontakt zu den Gastgruppen, die vielen rechtlichen und finanziellen Folgen und Fragen.
Der Marstall Clemenswerth ist stark im Emsland verankert. Wie sieht diese Verbindung aus?
Ehrenamtliches Engagement, vor allem im Bereich der (kirchlichen) Jugendarbeit, ist kaum irgendwo stärker ausgeprägt als hier. Das zeigt etwa die Emslandstudie. Unsere Häuser sind wichtige Orte des Ehrenamtes. So finden bei uns zum Beispiel Jugendleiterausbildungen für die sportliche oder kirchliche Jugendarbeit statt. Ohne eine solche Grundausbildung dürfen in vielen Bereichen die Jugendlichen ihre Ehrenämter gar nicht ausüben.
Und eben diese Angebote können derzeit nicht stattfinden.
Genau. Ein Ausbleiben solcher Angebote beeinflusst diesen Teil des Lebens in der Region stark. Angebote zur Integration von Personen mit Flucht- und Migrationshintergrund wie Sprach- und Integrationskurse oder unsere regelmäßig stattfindende Austauschform „Treffpunkt Moin“ sind ebenfalls von unserer Schließung betroffen.
Viele Besucher kommen seit Jahren immer wieder. Wie gehen sie damit um, dass Ihre Angebote derzeit nicht stattfinden?
Richtig, viele Teilnehmer gehen in unserem Haus seit vielen Jahren ein und aus, manche Angebote sind zu einem festen Bestandteil ihres Jahresablaufes geworden. Die erste größere Veranstaltung, die wir absagen mussten, war die Osterfreizeit für Familien mit beeinträchtigten Kindern. Diese Freizeit gibt es seit über 30 Jahren und jedes Jahr nehmen hier rund 60 Personen teil. Eine Mutter von vier Pflegekindern sagte am Telefon bei der Absage: „Seit 2008 komme ich jedes Jahr über Ostern mit meinen Jungs in den Marstall – ich weiß gar nicht, wie man Ostern zu Hause überhaupt feiert.“
Sie haben aber eine Alternative entwickelt…
Wir haben für unsere Osterfreizeit eine interaktive und multimediale Version für zu Hause in Form eines Heftes, kombiniert mit Videos, Facebook-Beiträgen, Playlists und so weiter entworfen. Ein Angebot, das sehr gut angenommen wurde und den Familien das Osterfest bereichern konnte.
Gibt es derzeit noch weiteren Austausch?
Ja. Gemeinsam mit weiteren Partnern haben wir einen kostenlosen Einkaufsdienst für Senioren, Menschen mit Vorerkrankungen und Alleinerziehende eingerichtet. Darüber hinaus gibt es eine Gesprächshotline für Menschen, die einfach mal mit einem Seelsorger oder einer Person mit Zeit und offenem Ohr sprechen wollen. Unser Klosterlädchen hat weiterhin geöffnet und stellt eine wichtige Einkaufs- und Kommunikationsmöglichkeit dar.
Ihre Osterfreizeit konnten Sie in anderen Kanälen aufgreifen. Funktioniert das auch für Ihre Angebote in der Jugendbildung?
Der Marstall Clemenswerth stellt für die Schüler eine wichtige Ergänzung zum schulischen Unterricht dar. Und genau das fällt nun weg. Wir stehen vor der Frage, wie soziales Lernen von entsprechenden Kompetenzen in Corona-Zeiten gehen kann. Mit E-Learning-Angeboten wird es in unserem Fall jedenfalls nicht gehen, da viele Angebote in unseren Häusern vom Zusammensein leben. Darum gibt es uns ja.
Unsere Angebotsformate setzen das Erleben und Begegnen in den Fokus. Eine dauerhafte Umstellung ist daher kaum denkbar. Und die Neu- oder Weiterentwicklung von Konzepten steht leider gerade hintenan, weil dafür einfach keine Ressourcen vorhanden sind. Es muss gespart werden, wo es möglich ist. Die Mitarbeiter aus dem pädagogischen Team, die noch anwesend sind, werden für das „Management der Krise“ gebraucht und haben damit gerade alle Hände voll zu tun.
Wie kann der Marstall Clemenswerth unterstützt werden?
Wir kämpfen dafür, dass es einen Rettungsschirm vom Bund und Land gibt! Aufgrund unserer gesellschaftlichen und sozialpädagogischen Systemrelevanz, weit über unsere Region hinaus, muss es diesen geben. Wir sind ein starker Bildungspartner der Schulen Niedersachsens. Unsere Jugendbildungsstätten profitieren aber in einem normalen Haushaltsjahr von keinem einzigen direkten Euro aus Landesmitteln. In dieser besonderen Krise haben wir nun klare Erwartungen an das Land. Es ist zurzeit schwer auszuhalten, wie zögerlich das Kultusministerium mit den Stornokosten umgeht. Da gibt es ganz klaren Handlungsbedarf.
Was meinen Sie damit genau?
Unsere Hoffnungen und Erwartungen gehen bislang in die Richtung, dass seitens der Politik auf unterschiedlichen Ebenen die Bedeutsamkeit von Einrichtungen wie der unseren erkannt und entsprechende Rettungs- und Unterstützungsprogramme installiert werden. Hierfür kooperieren wir derzeit in unserer Kommunikation mit allen ähnlichen Einrichtungen im Land. Wir brauchen die Bildungshauslandschaft als Bildungsort für unsere Jugend.
Was ist nötig, damit es weitergeht?
Grundvoraussetzung, damit es weitergeht, ist und bleibt ein Rettungsschirm für die Bildungshäuser der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Es sterben jetzt schon Häuser und stehen kurz vor der Insolvenz. Wie viele müssen sterben, bevor es belastbare Zusagen aus der Politik gibt? Jeder Politiker weiß um die Relevanz und Bedeutung der Bildungsstätten, aber noch kann niemand verlässliche Hilfe zusagen. Aus pastoraler und jugendbildnerischer Sicht ist das wirklich zum Heulen.
Warum wäre genau jetzt politische Jugendbildung wichtig?
Wir haben gerade eine lange Lücke, in der wir keine politische Jugendbildung betreiben können zu wichtigen Themen wie Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit oder Rechtspopulismus und -extremismus. Unsere Arbeit ist wichtig und sie fällt gerade weg.
Zudem ergeben sich gerade neue Themen in der Corona-Krise oder bestimmte Themen werden deutlich akuter. Der Zusammenhang von Bildung und sozialer Situation wird noch deutlicher, die Gefahr, dass junge Menschen abgehängt werden ist noch größer.
Unsere Aufgabe ist es gerade, diese Phase zu überstehen. Es brennt uns aber unter den Nägeln, dass wir wieder loslegen können!