Jede Stimme zählt - Fachtagung des Europabüros

Europa ist ein wesentlicher Teil der politischen Bildungsarbeit. Mit den dabei bestehenden Schwierigkeiten, Lösungsansätzen und Ideen für Bildungsveranstaltungen befasste sich ein Seminar Ende 2018 in Brüssel.

Michael Hoppe hät einen Vortrag auf der Fachtagung "Jede Stimme zählt - die Europawahl 2019 und die aktive EU-Bürgerschaft" im Europabüro in Brüssel am 4. Dezember 2018. Quelle: Marie Schwenning

„Jede Stimme zählt – die Europawahl 2019 und die aktive EU-Bürgerschaft“: So der genaue Titel des Seminars für Fachkräfte der Jugendbildung, das am 4. Dezember 2018 vom Europabüro in Brüssel ausgerichtet wurde. Insgesamt 40 Personen nahmen an der zweitägigen Veranstaltung teil, diskutierten über die Herausforderungen der Europavermittlung und suchten nach Lösungen.

Schwierigkeiten in der Europa-Vermittlung

Im Wesentlichen steht die politische Bildungsarbeit vor drei Herausforderungen beim Thema Europa. Zum einen ist die Europäische Union ein sehr komplexes politisches Gebilde. Zweitens können die Zusammenhänge zwischen dem alltäglichen Leben der Bürger/-innen und der Europäischen Union abstrakt erscheinen. Und drittens wird es mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer schwieriger, sich an den ursprünglichen Gründungsauftrag der Europäischen Gemeinschaften zu erinnern: Den Nationalismus in Europa zu besiegen, um Frieden und Sicherheit zu gewähren.

Hinzu kommt, dass die Referent/-innen der politischen Bildungsarbeit Schwierigkeiten darin haben, Personen zu erreichen, die sich nicht für die Themen Europa und EU interessieren. Auf den Punkt bring es eine Karteikarte, die während einer Gruppenarbeit auf der Veranstaltung erstellt wurde: „Wir erreichen nur die Leute, die schon interessiert sind.“ Ein weiteres Problem demnach: „Fehlende Zeit, fehlendes Geld“, um bildungsbenachteiligte Zielgruppen zu erreichen. Und ein weiteres wichtiger Punkt auf einer Karteikarte weist darauf hin, dass die politische Bildungsarbeit Emotionen stärker einbeziehen müsse.

Mögliche Lösungen

Die EU kann nicht alleine vermittelt werden, indem sie in Seminaren oder durch Textlektüre erläutert wird. Aus Sicht der Referent/-innen sind daher Veranstaltungsformate sinnvoll, die ein mehrschichtiges Erleben möglich machen.
Verschiedene mehrdimensionale Ansätze, die im Gespräch waren, haben zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen können sie Personen nicht nur kognitiv, sondern auch emotional ansprechen. Zum anderen rezipieren die Lernenden nicht nur, sondern handeln aktiv.

Politische Planspiele

Bei politischen Planspielen handelt es sich um einen solchen mehrschichtigen Ansatz, der in der politikdidaktischen Forschung viel Aufmerksamkeit erhält. Verschiedene Studien belegen die Wirksamkeit von Planspielen im Schulbereich.
Bei einem Planspiel nehmen die Teilnehmer/-innen für einen begrenzten Zeitraum die Rollen politischer Akteure ein und verhandeln einen Rechtsakt. In Planspielen können Schüler/-innen nachempfinden, wie es ist, an einem politischen Prozess teilzunehmen. Vielfach wird im Anschluss ein gesteigertes Verständnis für die Langwierigkeit politischer Verhandlungen geäußert, da es gar nicht so einfach sei, sich in Streitfragen zu einigen.

Europäische Jugendwochen

Ein Format, das in besonderer Form auf „Erleben“ und „Aktivität“ setzt, sind die „Europäischen Jugendwochen“, wie sie im Haus am Maiberg (Heppenheim) durchgeführt werden. Durch die verhältnismäßig lange Dauer der Veranstaltungen von zwei Wochen und das Zusammenleben einer gemischt-nationalen Gruppe im Tagungshaus ist ein besonders intensives Kennenlernen möglich. Im Zuge der auftretenden gruppendynamischen Prozesse fallen die Hemmungen, Emotionen zu politischen Themen offen auszudrücken. Die Dauer von zwei Wochen ermöglicht es den Trainer/-innen, umfangreiche Aktivitäten durchzuführen. Die „Europäischen Jugendwochen“ werden in ihrer Wirkung auf die Teilnehmer/-innen als sehr positiv eingeschätzt.

Studienfahrten und Exkursionen

Als zeitlich kürzere Formate bieten sich Studienfahrten und Exkursionen an, wie sie von der KEB-Trier und auch vom Haus am Maiberg durchgeführt werden. Dazu gehören Fahrten nach Straßburg und Brüssel, um die Europäischen Institutionen einmal aus nächster Nähe zu sehen. Zu nennen sind hier auch Fahrten mit eher historischem Charakter nach Verdun, nach Schengen oder nach Frankreich zum Grab Robert Schumans. Derartige Exkursionen machen es möglich, die nationalistische und kriegerische Vergangenheit Europas in Erinnerung zu rufen.

Weitere aktive Einbeziehung

Auch die europäischen Parteien setzen in ihren Aktivitäten zur Europawähl auf die aktive Einbeziehung. In Bürgerdialogen und der „go-local“-Initiative wird der Kontakt mit Bürger/-innen gesucht. Daneben haben auch die Auswahl von möglichst interessanten Themen, eine guter PR-Arbeit und die Verknüpfung mit Personen eine hohe Bedeutung.

Noch mehr Lösungsansätze

Die Teilnehmer/-innen des Seminars schlugen in ihrer Eigenarbeitsphase verschiedene Lösungsansätze vor. Einige der Ideen beziehen sich auf die Art und Weise, wie in der Bildungsarbeit über die EU kommuniziert wird. Konkret wurde vorgeschlagen, die Vorteile der Union stärker in der Vordergrund zu rücken und zu diskutieren, wie die EU verändert werden müsste, damit diese Vorteile maximiert werden. Die Kernfragen lauten dabei: „Wo profitieren wir von der EU? Was bräuchte es, damit wir von der EU profitieren“. Eine weitere Idee besteht darin, die Chancen der europäischen Vielfalt stärker zu betonen und danach zu fragen, was die Alternative zu Europa sei.

Zwei der gemachten Vorschläge betonten, wie wichtig es ist, an das geschichtliche Fundament Europas zu erinnern und dass der historischen Vermittlung sowie der Erinnerungskultur eine höhere Stellenwert eingeräumt werden müsse.

Die dritte große Gruppe der durch die Teilnehmer/-innen erarbeiteten Lösungsansätze drehte sich um mehrschichtige, erlebnisbezogene Bildungsansätze. Die Durchführung von Planspielen und das Aufsuchen europäischer Lernorte wurden als Ideen vorgebracht. Mittels mehr gemischtnationaler Seminare könne für die Lernenden im Umgang mit anderen Europäern Europa erfahrbar werden. Insgesamt müssten die Bezüge Europas zur Lebenswelt und dem Alltag stärker herausgearbeitet werden.

Ideen für Bildungsveranstaltungen

Im zweiten Schritt der Eigenarbeitsphase entwickelten die Teilnehmer/-innen in Gruppenarbeit konkrete Ideen für Bildungsveranstaltungen. Dabei ging es mehrfach um die Idee, Europa zu stärken, indem der Alltagsbezug der wahrgenommenen Abstraktheit gegenübergestellt wird.
Unter dem Motto „Europa im Alltag entdecken“, so ein Vorschlag, könnten mit Lernenden Stadt-Rallyes durchgeführt und die Ergebnisse in Foto-Storys dokumentiert werden. Ähnlich gelagert ist der Vorschlag, einen Fotowettbewerb „Europa vor Ort: Wo ist Europa bei mir“ durchzuführen.
Als niedrigschwelliges Angebot eigneten sich musikalische und kulinarische Entdeckungsreisen. Aufgenommen wurde die Idee, die „Gamification“ als Unterstützung der politischen Bildung ernst zu nehmen und Planspiele zu veranstalten. Das Ludwig-Windhorst-Haus in Lingen, das auf der Fachtagung durch Veronika Schniederalbers vertreten war, hat seit Januar 2019 eigene Planspiele entwickelt und durchgeführt.
Die Idee, durch Exkursionen und Fahrten zu Entscheidungsorten Begegnungen und Erlebnisse zu schaffen, wurde auf zwei Karteikarten zum Ausdruck gebracht. Die KEB-Trier und das Seelsorgeamt Freiburg, die auf der Fachtagung durch Katharina Zey-Wortmann und Ela Bradl vertreten waren, arbeiten für das Jahr 2019 an der Durchführung mehrerer Exkursionen. Die Einbindung von Kandidat/-innen und Abgeordneten, Vorträge von Zeitzeug/-innen und Wahlbeobachtungsseminare wurden ebenfalls genannt.

Einblick in die Wahlkampagne zur Europawahl 2019 der Sozialdemokraten

Zusätzlich berichteten auf der Fachtagung Expert/-innen der Europavermittlung. Zu Gast war unter anderem Michael Hoppe, Leiter der Abteilung „Europawahl 2019, der S&D-Fraktion (Sozialdemokraten) im Europäischen Parlament.
Herr Hoppe eröffnete den Teilnehmer/-innen des Seminars, die bevorstehende Wahl des Europäischen Parlamentes sei die wichtigste in der Geschichte der EU. Es handele sich um einen offenen Wettstreit zwischen liberaler Demokratie und ethnischem Nationalismus. Hinzu kämen äußere Herausforderungen. Trump und Putin hätten Interesse an einem schwachen Parlament und einem schwachen Europa. Die Europäer jedoch brauchten ein starkes Europaparlament und eine starke EU. Extremisten und Populisten hätten in diesem Zusammenhang nichts beizutragen, da es ihnen nur um Zerstörung ginge.
Für die europäischen Parteien sei es nun wichtig, mit den Bürger/-innen in den Dialog zu kommen. Seit zwei Jahren führte die S&D in der Fläche Bürgerdialoge durch. Bis jetzt hätten 30 solcher Veranstaltungen stattgefunden. Um das richtige inhaltliche Fundament zu haben, arbeite die Fraktion an einem Manifest. In diesem Zusammenhang sei auch die „go-local“-Initiative zu nennen, in deren Rahmen S&D-Politiker in Bars und Kneipen das Gespräch im kleinen Kreis suchten. Dabei würden Probleme der Bürger/-innen wie das Fehlen bezahlbaren Wohnraums sichtbar. Generell müssten die Parteien die lokale Ebene viel stärker einbeziehen.
Der Sommer 2018 habe das Thema Klimawandel auf der politischen Agenda weit nach oben gerückt. Die lange Trockenheit habe gezeigt, wie drängend dieses Problem sei. Neben den Themen Steuergerechtigkeit und Soziales stünden auch die politischen Rechte von Flüchtlingen im Fokus. Nicht zu vernachlässigen seien auch die Auswirkungen der Digitalisierung. Viele Menschen hätten mittlerweile Angst vor dem Urlaubsantritt, weil sie mit digitalen Technologien, die zur Ticketbuchung oder der Gepäckaufgabe an Flughäfen genutzt würden, nicht umgehen könnten.
Im Wahlkampf werde sich die S&D auf die Unterstützung der Partei der Europäischen Sozialisten (PES) konzentrieren. Dafür sei die Fraktion im Parlament gut platziert. In der Wahlkampfkommunikation dürften die Fehler, die Europa gemacht habe, nicht unter den Tisch gekehrt werden. Durch die Verbreitung attraktiver Messages und kurzer Videobotschaften würden die Sozialdemokraten ihre Inhalte und die Botschaften des Spitzenkandidaten Franz Timmermanns verbreiten. Die S&D fordere die Einführung transnationaler Wahllisten.
Zur Koordination des Wahlkampfes führe die S&D einen Workshop mit den Wahlkampfmanagern der nationalen Parteien durch. Dabei gehe es um die Frage, wie Fehlinformationen verhindert und die Kernbotschaften teilweise vereinheitlicht werden könnten. Eine wichtige Lehre des vergangenen Wahlkampfes sei es, dass die Kampagne viel früher hätte starten müssen. 2014 hätten die Parteien viel zu spät angefangen.